Start Alle Kategorien-de Aktuell Akademische Freiheit in der Türkei auf dem Tiefpunkt: „Das Diplom dieses despotischen Regimes ist ungültig.“

Akademische Freiheit in der Türkei auf dem Tiefpunkt: „Das Diplom dieses despotischen Regimes ist ungültig.“

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Akademische Freiheit in der Türkei auf dem Tiefpunkt: „Das Diplom dieses despotischen Regimes ist ungültig.“

Studierende protestierten bei der jüngsten Abschlussfeier der Technischen Universität Istanbul gegen die Rede des Rektors. Angehörige auf den Tribünen applaudierten. Diese einhellige Reaktion war nicht nur ein kurzfristiger Protest, sondern Ausdruck einer wachsenden, kollektiven Besorgnis über die Universitätsverwaltung und die akademische Freiheit in der Türkei (https://onedio.com/haber/itu-mezuniyet-toreninde-rektorun-konusmasini-protesto-eden-ogrencilere-aileler-alkislarla-destek-verdi-1303148).

Die Universitäten in der Türkei haben sich im letzten Jahrzehnt stark zentralisiert. Nach 2016 erlassene Bestimmungen schafften die Rektorwahlen vollständig ab; alle Rektoren werden vom Präsidenten ernannt. Die Boğaziçi-Universität, die METU, die Universität Istanbul, die Marmara-Universität und viele andere etablierte Universitäten haben aufgrund von Ernennungen gegen den Willen ihrer Dozenten Brüche in ihrer akademischen und kulturellen Identität erlebt. Diese Ernennungen sind nicht bloß administrative Entscheidungen, sondern werden als Aushöhlung des Autonomieprinzips betrachtet, das Universitäten historisch hochgehalten haben.

Diese Situation beschränkt sich nicht auf Universitäten. Ähnliche Spannungen zeigen sich auch an Gymnasien, wie die Abschlussfeier des Wissenschaftlichen Gymnasiums in Ankara zeigt. Schüler protestierten gegen den Schulleiter, da sie sich ihres Rechts beraubt fühlten, ihr Lernumfeld mitzugestalten. Diese Wahrnehmung von verminderter Teilhabe und Mitsprache im Bildungswesen ist mittlerweile nicht nur unter Studierenden, sondern auch in jüngeren Altersgruppen spürbar (https://ankahaber.net/haber/detay/ankara_fen_lisesi_ogrencileri__mezuniyet_toreninde_okul_mudurunu_protesto_etti_246956).

Doruk Dörücüs Protest, indem er bei der Abschlussfeier der Boğaziçi-Universität sein Diplom auf der Bühne zerriss (https://www.dw.com/tr/i%CC%87mamo%C4%9Flu-protestosu-diplomas%C4%B1n%C4%B1-y%C4%B1rtan-doruk-d%C3%B6r%C3%BCc%C3%BC-serbest/a-73153618), ist als eines der symbolträchtigsten Beispiele dieses Wandels ins Gedächtnis eingebrannt. Die Worte „Das Diplom dieses despotischen Regimes ist ungültig“ mögen wie eine individuelle Aussage erscheinen, doch sie brachten das Gefühl zum Ausdruck, dass die Universität aufgehört hatte, ein Ort der Inspiration und des freien Willens für die Studierenden zu sein. Das Zerreißen des Diploms war ein Protest nicht nur gegen die Bildungseinrichtung selbst, sondern auch gegen die kulturellen Werte, die sie vermeintlich verkörperte.

Diese Entwicklungen sind kein rein türkisches Phänomen. Im gleichen Zeitraum sagen Universitäten in den USA (https://www.independent.co.uk/news/harvard-university-donald-trump-university-of-kentucky-education-department-phoenix-b2742772.html) und anderswo (https://www.belfasttelegraph.co.uk/news/northern-ireland/ulster-university-accused-of-censorship-after-removing-palestinian-flag-footage-from-graduation-video/a231930227.html) aufgrund von Protesten auf dem Campus und politischem Druck Abschlussfeiern ab, verbieten Symbole und schränken das Rederecht der Studierenden ein. Die Politisierung der Wissenschaft und die Reaktion der Regierungen auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit zeigen einen ähnlichen Trend auf globaler Ebene. Formen der Unterdrückung, wie der internationale Wissensaustausch, kennen keine Grenzen mehr.

Der Applaus von den Rängen der ITU markierte einen entscheidenden Wendepunkt. Diesmal sprachen nicht nur die Studierenden; auch ihre Familien demonstrierten ihre Ablehnung des auf der Bühne ausgeübten Drucks. Diese Unterstützung erinnerte sie daran, dass akademische Freiheit nicht bloß eine interne Debatte unter Akademikern oder Studierenden ist, sondern ein gemeinsamer Wert, der die Zukunft der Gesellschaft prägt.

Abschlussfeiern sind Rituale, die zeigen, wie sich eine Universität definiert. Werden diese Rituale zum Schweigen gebracht, schrumpft auch der intellektuelle Raum der Universität. Was heute auf der Bühne der Abschlussfeiern in der Türkei geschieht, ist nicht nur eine Zeremonie, sondern eine Diskussion darüber, wie man öffentliches Denken, eine Kultur der Kritik und eine gesellschaftliche Zukunft gestalten kann.

Und vielleicht ist genau deshalb dieser Applaus an der ITU mehr als ein Protest. Der grundlegendste Ausdruck akademischer Freiheit lautet: Wissen ist nur dann sinnvoll, wenn es frei produziert wird.

Der Ausweg aus dieser Sackgasse liegt darin, dass die Öffentlichkeit gemeinsam auf den Druck auf die Wissenschaft reagiert und die Politiker zur Rechenschaft zieht. Die Universität ist nicht von der Gesellschaft isoliert; wo die Gesellschaft schweigt, schweigt auch die Universität.