Hintergrund einer „akademischen Zusammenbruchs“ I: Was in der Türkei passierte
Hintergrund einer „akademischen Zusammenbruchs“ I: Was in der Türkei passierte

Hintergrund einer „akademischen Zusammenbruchs“ I: Was in der Türkei passierte

Zusammenfassung

Die Türkei war augenscheinlich ein Land, das mit seiner muslimischen Bevölkerung die demokratischen und laizistischen Werte, wenn auch nur formell, vereint hatte. Die gegenwärtige Regierungspartei AKP, die seit 2002 an der Macht ist, zeigte anfangs ein demokratisches Image. Die Türkei machte im Zuge des EU-Beitritts wichtige Schritte und erweiterte das Gebiet der Freiheiten.

Doch mit der Zeit vereinte sich die parteiinterne Kontrolle in der Person des Recep Tayyip Erdogan. Er und seine Weggefährten schlugen nach den Wahlerfolgen in 2010 (Grundgesetzreferendum) und 2011 (Parlamentswahlen) schnellen Schritts den Weg der Autorität ein, nachdem sie mit dem Gedanken übermannt worden waren, dass die große Mehrheit hinter ihnen steht.

Insbesondere bei der Vernehmung der Militärputsche der Vergangenheit, der Ausweitung der Freiheiten und die Einführung der EU-Normen hat die Partei ihre zivilen Unterstützer als Staatsfeinde deklariert. Auch kooperierten sie mit dem „Tiefen Staat“, den sie jahrelang zu bekämpfen pflegten. Nach den Protestmärschen der linken Fraktionen im Frühjahr 2013 um den „Gezi-Park“ in Istanbul wurden diese und nach der Aufdeckung der Vetternwirtschaft einiger Minister wurde dann noch die Gülen-Bewegung als Feinde gesehen.

Im Mittelpunkt dieser Nepotismus-Vorwürfe standen Erdogan und seine Familienmitglieder. Diese Vorwürfe stützten auf sehr starke Beweise. Die bevorstehenden Operationen und Razzien wurden mit der Auflösung vieler Einheiten in der Justiz und Polizei verhindert. Als Vorwand für diesen Autoritätswahn wurde die Gülen-Bewegung gebrandmarkt und damit ein neues Feindbild kreiert.

Gegen die „Gülenisten“ begann damit im Sommer 2014 eine sogenannte „Hexenjagd“, die mit dem Pseudo-Putsch am 15. Juli 2016 zu Massenverhaftungen, Enteignungen und Suspendierungen führten. Das durch Erdogan selbst inszenierte Ein-Mann-Regime fand nach dem Referendum im Jahr 2017 eine rechtliche Basis. Somit ist die Türkei seitdem eine „Dystopie“, in der nur ein Mann über alles herrscht und seine Worte als Gesetz angesehen werden.

Vom militärunterstützten Laizismus zum volksunterstützten Faschismus

Der erste Eindruck über die Türkei gibt ein Land her, das mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung eine laizistische Verfassung hat und Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Fahne geschrieben hat.[1] Die 2002 an die Regierung gekommene AKP, die sich als „konservativ-demokratisch“ eingestuft hatte, schrieb die Ausweitung der Freiheiten und die Einführung der EU-Werte auf ihre Agenda. Die anfangs demokratische Administration entwickelte sich mit der Zeit zu einer „Lieder Party“. Alle Macht in der Partei versammelte sich in der Person von Erdogan. Im Schaufenster der Partei, das mit zahlreichen renommierten Politikern und Intellektuellen geschmückt war, blieb lediglich noch Erdogan allein.[2] Die anfangs einflussreichsten Politiker sind peu a peu aus der Parteiführung ausgeschlossen worden und sind somit in Vergessenheit geraten.

Nach 2011 gewann eine „islamistische, nationalistische und fremdenfeindliche Rhetorik“ die Oberhand in der Parteiführung. Erdogan, der von 2003 bis 2014 Regierungschef war und danach Staatspräsident wurde, machte die Errungenschaften zwischen 2002 und 2011 bezüglich einer EU-Mitgliedschaft und Ausweitung der Freiheiten zunichte. [3],[4]

Wendepunkt: Die Parlamentswahlen 2011

Als Meilensteine bei der Abwendung der Türkei von der Demokratie können einige Ereignisse gezählt werden. Erdogan, der in dieser Wahl eine absolute Mehrheit von 49,5% und damit die Zustimmung einer breiten Öffentlichkeit gewonnen hatte, erklärte die Kooperation mit einigen Gruppierungen für beendet. Zu diesen Gruppen gehören die Liberalen, die liberalen Linken, die Gülen-Bewegung (oder auch Hizmet-Bewegung) und einige kurdische Fraktionen. Die politische Unterstützung dieser Gruppen basierte auf der Anfechtung der Aneignung der EU-Werte im Land. Dagegen verbündete sich Erdogan mit dem „Tiefen Staat“, den mafia-ähnlichen Szenen und ultranationalistischen Gruppen und Parteien.[5]

In dieser neuen Epoche stuften Erdogan und seine neuen Verbündeten diese Gruppen als „Feind“ ein. Die breitflächigen „Gezi-Park“-Proteste nutzte er lediglich gekonnt aus, um seine eigene Basis intensiv zu konsolidieren. Im Dezember 2013 brach der größte „Schmiergeld-Skandal“ in der Geschichte der Türkei aus, der eine internationale Vernetzung aufwies. Darin waren Erdogan und seine Kinder, sowie vier weitere Minister verwickelt. Erdogan erklärte diese Untersuchungen, die an seine Person und den Personen der Minister gerichtet waren, zu einem „Putsch gegen seine Regierung“. Verantwortlich sah er die Gülen-Bewegung und den Prediger Fethullah Gülen. Er sah ein, dass er nach zahlreichen, gegen ihn gerichteten Beweismaterialien bei einer existierenden unabhängigen Justiz nicht mehr die Möglichkeit hat, an der Macht zu bleiben. Er fügte dem Rechtssystem schwer zu überwindende Schaden zu, in dem er Gerichte an sich gebunden und die Untersuchungen damit eingestellt hatte.[6],[7]

Die Türkei verließ damit die „Normalität“. Im Frühjahr 2014 deutete er auf eine bevorstehende „Hexenjagd“ gegen die Hizmet-Bewegung und durch die Umstrukturierung der Justiz die Einreichung Tausender Klagen an. Nach zahlreichen Neuregelungen in den Gesetzen wurden gegen Polizeihauptkommissare und Journalisten vorgegangen, die diese Vetternwirtschaft aufgedeckt hatten. Massenverhaftungen waren die Folge. Die aktuellen Ereignisse in der Türkei sind eine Art Fortsetzung dieser Prozesse.[8],[9],[10],[11]

Ein merkwürdiger Putsch als „Segen Gottes“ für Erdogan

Am 15. Juli 2016 ereignete sich in der Türkei ein merkwürdiger und sogleich unkonventioneller Putsch. Doch statt Putsch wäre es angemessen, wenn man dieses Ereignis als „false flag operation“ benennen würde. Die Errichtung eines Ein-Mann-Regimes ist mit diesem merkwürdigen Putschversuch beschleunigt worden. Mit dem zwei Jahre währenden Ausnahmezustand ist die Verfassung außer Kraft gesetzt worden. Somit hat Erdogan die eigentlich der Regierung durch diesen Zustand gewährleisteten und die durch die Verfassung verwehrten Befugnisse usurpiert und eine Diktatur eingerichtet. Es ist offensichtlich, dass diese „false flag operation“ Erdogans Ziel gedient hat. Solch eine Operation, deren Aufklärung wiederum von ihm selbst verhindert wurde, könnte auch nur einem solchen Ziel gedient haben.[12],[13],[14],[15]

Der „Erdogan-Putsch“ hat alle staatlichen Einrichtungen und Institutionen zur Zielscheibe gemacht. Primär wurden renommierte und funktionstüchtige Einrichtungen durch seine Leute besetzt oder komplett abgeschafft. An erster Linie können das Militär, die Gerichte, höhere Justizbehörden, die Polizei und Hochschulen gezählt werden. Auf Geheiß der erlassenen Dekrete, die die Gesetze ersetzen sollen, wurden Tausende Bildungseinrichtungen und zivile Bürgerinitiativen geschlossen und enteignet. Weiterhin wurden Tausende Firmen konfisziert, deren Gesamtbudget auf 20 Mrd. Dollar hinausliefen. Bis Anfang 2019 wurde in dieser fünfjährigen „Hexenjagd“ über eine halbe Million Menschen verhört und Hunderttausende festgenommen. Somit belegte die Türkei bei den inhaftierten Journalisten den ersten Platz weltweit. Währenddessen haben Erdogan und seine Leute der Weltgemeinschaft die Botschaft ausgerufen, sie würden resolut sein, die Demokratie in all ihren Belangen zu verteidigen. Bitter war es, dass sie sogar im Ausland Journalisten mit dem Terror bezichtigt haben, die frei ihre Fragen an sie gerichtet haben. Zumindest sprächen sie wie die Gülenisten.[16],[17],[18],[19],[20]

„Der akademische Kreis“ war das bevorzugte Ziel

Bei der Zerstörung der Einrichtungen und Institutionen in der Türkei nahm der Akademikerkreis die erste Stelle. Trotz der durch die Verfassung festgelegten Einschränkungen gegen die Regierung sind Tausende Akademiker ihres Amtes enthoben und festgenommen. Fragwürdig ist die Tatsache, dass die große Mehrheit der Gesellschaft entweder aus Angst oder anderen Gründen diese Zerstörung gebilligt hat. Diese nicht legitimen Schritte an den Hochschulen sind nur ein Teil der Zerstörungen im ganzen Land. Erstaunlich ist, dass der akademische Kreis während der Machtausweitung eine sehr schlechte Prüfung abgelegt hat. Fast an allen Hochschulen waren Akademiker zu sehen, die aus persönlichem Hass oder Konkurrenz ihre Kollegen angezeigt haben.[21],[22],[23] Neben denjenigen Akademikern, die dieser Propaganda zum Opfer gefallen sind, war die Anzahl der Opportunisten nicht zu unterschätzen, die diese Suspendierungen zu einer Chance genutzt haben. Erschreckend war zudem, dass sogar einige Oppositionelle und Gewerkschafter, die sich augenscheinlich für die Demokratie aussprechen, diese Ungerechtigkeiten provoziert, ermuntert und angetrieben haben.[24]

  1. https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/apr/03/turkey-democracy-local-elections-akp-erdogan
  2. https://foreignpolicy.com/2013/06/03/how-democratic-is-turkey/
  3. https://www.bbc.com/news/world-europe-17994865
  4. https://edition.cnn.com/2017/04/15/europe/turkey-erdogan-referendum-politics/index.html
  5. https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/comments/2014C44_srt.pdf
  6. http://world.time.com/2014/01/02/how-erdogans-troubles-are-good-for-turkish-democracy/
  7. https://www.nytimes.com/2018/06/22/opinion/turkey-election-erdogan-ince.html
  8. https://www.washingtonpost.com/opinions/ekrem-dumanli-turkeys-witch-hunt-against-the-media/2015/01/01/7544429a-8fad-11e4-ba53-a477d66580ed_story.html?noredirect=on&utm_term=.65140263cf6a
  9. https://stockholmcf.org/turkeys-erdogan-calls-for-expanded-witch-hunt-against-gulen-followers/
  10. https://www.cnbc.com/2016/07/19/turkeys-witch-hunt-of-erdogan-rivals-only-just-starting.html
  11. https://www.amazon.com/Hungry-Power-Erdogans-Witch-Abuse/dp/1935295772
  12. https://www.washingtonpost.com/news/democracy-post/wp/2017/07/14/one-year-later-the-turkish-coup-attempt-remains-shrouded-in-mystery/?utm_term=.0811e04a9417
  13. https://www.aldrimer.no/nato-insiders-suspect-staged-turkey-coup/
  14. https://www.quora.com/Was-the-coup-in-Turkey-a-false-flag-operation-by-the-government-to-consolidate-power-over-military-and-courts
  15. http://www.aei.org/publication/turkish-officers-speak-erdogan-may-have-staged-coup/
  16. https://www.hrw.org/world-report/2019/country-chapters/turkey
  17. https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/turkey
  18. https://www.nytimes.com/2019/01/02/world/europe/turkey-emigration-erdogan.html
  19. https://www.bbc.com/news/av/world-europe-42586115/turkish-president-erdogan-berates-french-journalist
  20. https://www.dw.com/en/erdogan-in-paris-journalists-are-gardeners-of-terrorism/a-42037145
  21. https://arsiv.toplumsal.com.tr/gundem/dort-akademisyeni-olduren-volkan-bayar-o-akp-linin-muhbiri-cikti-h19942.html
  22. http://www.tr724.com/katilin-isbirlikcilerine-sucustu/
  23. http://www.hurriyet.com.tr/feto-davasi-tanigi-profesor-rektor-secimlerde-40490130
  24. https://www.sondakika.com/haber/haber-chp-li-altiok-tan-aciga-alinan-rektor-hoscoskun-la-9323116/

(Art. No: 2)

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