Neun Jahre sind seit dem Putschversuch vom 15. Juli vergangen. Nach diesem Ereignis, das Erdoğan als „Segen Gottes“ bezeichnete, führten der in der Türkei verhängte Ausnahmezustand und die darauffolgenden gesetzlichen Erlasse zur Entlassung oder Ausweisung von rund 200.000 Beamten. Millionen von Studierenden und Bürgern waren unter den Opfern. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die akademische Welt waren noch schwerwiegender.
Zwischen 2016 und 2018 wurden über 8.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an öffentlichen Universitäten entlassen, das entspricht etwa 5,7 % aller Professorinnen und Professoren. Die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit nahm spürbar ab; die Zahl der Veröffentlichungen sank um 20–30 %, und viele Dissertationen wurden annulliert.
Die akademische Welt erlitt durch die gesetzlichen Erlasse nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Verwüstungen:
- 6.081 Akademiker wurden vom Hochschulrat entlassen.
- Gegen die meisten der 2.212 Unterzeichner der Petition „Academics for Peace“ wurden während des Ausnahmezustands Ermittlungen eingeleitet.
- 1.577 Dekane mussten zurücktreten, und zahlreiche Fakultäts- und Verwaltungsmitarbeiter sahen sich disziplinarischen Ermittlungen ausgesetzt.
- Es wurden Selbstmorde unter aus dem öffentlichen Dienst entlassenen Akademikern gemeldet.
„Nie wieder!“
Der Satz „Nie wieder!“ hat sich nach totalitären Regimen und massiven Menschenrechtsverletzungen im Laufe der Geschichte ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Besonders in Deutschland ist dieser Satz nach dem Nationalsozialismus mit dem Slogan „Nie wieder!“ in Erinnerung geblieben: Nie wieder dürfen staatlich sanktionierte Ungerechtigkeiten, die Unterdrückung der Wissenschaft und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit toleriert werden. Doch in den neun Jahren seit dem 15. Juli hat die Türkei es versäumt, diesen Aufruf zu verinnerlichen. Anstatt „Nie wieder!“ zu rufen, erleben wir eine Zeit, in der das gesellschaftliche und akademische Gedächtnis systematisch unterdrückt, kritische Stimmen neutralisiert und alternative Ansichten kriminalisiert werden.
Die Wissenschaft ist das intellektuelle Gewissen und der Kompass einer Gesellschaft. In der Türkei ist dieser Kompass jedoch stark verzerrt. Die akademischen Freiheiten sind brüchig geworden, die wissenschaftliche Produktion hat an Dynamik verloren, und die internationale Zusammenarbeit ist geschwächt. Opfer gesetzlicher Erlasse können ihre Verteidigungsrechte nach wie vor nicht wahrnehmen und werden daran gehindert, ihre wissenschaftliche Arbeit wieder aufzunehmen. Viele Akademiker, isoliert von ihren Kollegen im Ausland, sind zu Einsamkeit und Armut verdammt. Dieser Prozess hat nicht nur zu individuellem, sondern auch zu kollektivem Gedächtnisverlust geführt.
Um diese Situation umzukehren, ist eine erneuerte Akzeptanz von Recht, Menschenrechten und wissenschaftlichen ethischen Prinzipien notwendig. Die akademische Zukunft der Türkei kann nur in einem Umfeld gedeihen, in dem Meinungsfreiheit gewährleistet, Leistung priorisiert und kritisches Denken nicht bestraft wird. Die Wiederherstellung der durch internationale akademische Netzwerke geschaffenen Brücken, die Stärkung der Kultur der akademischen Solidarität und die Auseinandersetzung mit vergangenen Missständen bilden die Eckpfeiler dieses Wiederaufbaus.
An diesem Jahrestag muss die Türkei nicht nur mit der Vergangenheit aufarbeiten, sondern auch ihre Entschlossenheit für eine gerechtere, freiere und produktivere Zukunft unter Beweis stellen. Es ist noch nicht zu spät, „Nie wieder“ zu sagen – aber die Zeit läuft schnell davon.